Show Project InfoHide Project Info

Festivalruhe

Spiegel Online | Kultur | 29.04.2013 Fotos: Kolja Schoepe

Die Sonne hat Deutschland zwar wiederentdeckt, die großen Musikfestivals werben bereits mit den ersten Acts – doch es dauert noch, bis im Sommer die Massen nach Wacken, zum Splash oder zum Dockville strömen. Was tun die Macher bis dahin? Und wie sehen die Grounds aus?

Client: Heart of the Arctic
Date: 2015-06-10
Services: Creative, Ideation, Design, Development

Teaser

Die Sonne hat Deutschland zwar wiederentdeckt, die großen Musikfestivals werben bereits mit den ersten Acts – doch es dauert noch, bis im Sommer die Massen nach Wacken, zum Splash oder zum Dockville strömen. Was tun die Macher bis dahin? Und wie sehen die Grounds aus?

SPIEGEL online | Frühjahr 2013
Fotos:
Kolja Schoepe

Text

Plattwalzen und basteln

Zwischen Kornspeicher und Industriekränen hat Enno Arndt im Hamburger Hafengelände das Kunst- und Musikfestival MS Dockville gegründet, das im Juli und August fast 30.000 Besucher anzieht. Das Konzept: endlose Baustelle. „Mir macht das nichts aus, wenn ich mal auf einer alten Matratze sitzen muss. Dass hier die Kabel aus den Wänden hängen und sich der Müll stapelt, ist eben Teil des Plans. Künstler haben Ateliers, Studios oder Werkstätten. Wir haben ein Festivalgelände. Und so lange das Kunstwerk nicht fertig ist, darf es auch mal dreckig werden. Das alte Shell-Labor hier am Reiherstieg pachten wir seit 2010 – während des Festivals ist es Stützpunkt und Künstlerlager. Und im Winter ist es hier nicht besonders schön. Aber dafür basteln wir das ganze Jahr an einem Sommerprojekt. Das Labor und das Festivalgelände sind endlose Baustellen – durch die wechselnden Kunst-Installationen und Bühnen sieht es jedes Jahr anders aus. Bis jetzt starten wir hier jährlich mit dem Kunst-Camp Ende Juli und verabschieden es mit dem Festivalwochenende Mitte August. Wenn uns die Behörden lassen, wollen wir im Erdgeschoss vom Labor Platz machen für ganzjährige Veranstaltungen wie Galerien und Konzerte. Und ich bin gespannt auf die kommende Saison. 2013 teilen wir uns das Gelände nämlich mit der internationalen Gartenschau. Die haben hier alles platt gewalzt – und dann bepflanzt und neu gebaut. Passt gut zu uns, finde ich.

55 Gäste pro Wackener

Auf den Äckern rund um Wacken in Schleswig-Holstein hat Thomas Jensen das weltgrößte Heavy-Metal-Festival aufgebaut. Sein Erfolgsgeheimnis: Den rund 1800 Dörflern zuhören. Jedem.

„Ich brauche hier nur das Licht anzumachen – und schon ist gefühlt Hochsaison. Der Supermarkt von Familie Boll hat nur an einem Wochenende im Jahr geöffnet, und zwar zum Festival. Die Ravioli, die Holzkohle und das Dosenbier sind meine Zeugen. Inklusive der Helfer sind wir Anfang August knapp 100.000, das macht 55 Gäste für jeden Wackener. Wenn einer ausfällt, hat der andere schon 110 Besucher, so einfach geht die Rechnung. Ohne die Gemeinde läuft hier gar nichts, aber da mache ich mir überhaupt keine Sorgen. Das Open Air ist praktisch das weltgrößte Dorffest. Da packen alle mit an, laden sich eigene Freunde ein, verkaufen Würstchen am Straßenrand und feiern mit Rockern, die bis aus Spanien, Schweden oder Ungarn kommen. Jetzt herrscht hier noch Ebbe. Aber im Nu sind hier alle hellwach. Und das mag ich auch so an meiner Heimat. Hier komm ich her, hier bin ich groß geworden und hier kann ich es mir nicht erlauben, Scheiße zu bauen. Logisch, dass bald erste Amtssitzung ist. Dann treff‘ ich die Banausen auf’m Saal, samt Bürgermeister, Feuerwehr und den Landwirten. Dazu lecker Kaffee und Stullen. Wie sich das hier gehört.“

Zum Duschen ins Freibad

Beim Appletree Garden Festival muss jeder ran, der nicht schnell genug auf dem Baum ist. Torben Eils war damals dabei, als hinter dem Haus eines Kumpels die erste Bühne aufgebaut wurde. Heute holt er internationale Bands in die niedersächsische Kleinstadt Diepholz.

„Der Deal mit dem Freibad läuft echt gut: Wir karren unsere Gäste mit einer Rummel-Eisenbahn in das Müntebad und brauchen deshalb ein paar Dusch-Container weniger. Kleinstadtromantik: Die Damen aalen sich in der Sonne, und die Herren machen beeindruckende Saltos vom Dreier. Für dieses Feeling komme ich jedes Jahr gerne wieder in die Heimat. Wir hatten hier damals keinen Bock mehr auf Scheunenfete und Schützenfest. Deshalb haben wir 2001 hinter dem Haus von meinem Kumpel David Binnewies die erste Bühne aufgebaut. Da hätten wir uns nicht träumen lassen, dass der Apfelbaumgarten mal fast halb so viele Besucher anlockt, wie Diepholz Einwohner hat. Im Kern besteht das Orga-Team noch immer aus dieser Clique, nur dass wir jetzt im Bürgerpark feiern – und mit uns 5.000 andere. So langsam geht’s richtig zur Sache. Bis zum nächsten Fest im Juli treffen wir uns regelmäßig im ehemaligen Schützenhaus. Dann bekommt jeder in unserem Verein zur Förderung der Jugendkultur eine kleine Aufgabe aufgehalst und muss damit irgendwie klarkommen. Ich bin Booker, weil ich das auch in Amsterdam machen kann, wo ich im Moment lebe. David unterstützt mich und macht nebenbei Logistik – und für den Campingplatz oder die Klos finden wir auch wieder jemanden.“

Klassentreffen der Rap-Szene

Zwischen den Kränen des Freiluftmuseums „Ferropolis“ in der Nähe von Dessau ist Mitte Juli der HipHop zu Hause. Julian Gupta kümmert sich darum, dass beim Splash nur die Besten der Zunft auftreten. Fragwürdige Texter bleiben draußen.

„Ja, manche Leute haben irgendwann angefangen, mich Mr. Splash zu nennen. Aber das ist ne Nummer zu groß, auch wenn ich hier gerade auf einem der Riesenbagger stehe. Ich identifiziere mich sehr mit dem Splash, natürlich freue ich mich, wenn die Leute das so wahrnehmen. Ich würde es aber trotzdem anders sagen: Unser Festival ist wie das jährliche Klassentreffen der deutschen Rapszene – und ich bin dann wohl einer der Streber-Nerds, die es organisieren. Casper, Marteria und Co. waren hier schon mit eigenen Zelten, bevor sie selber auf der Bühne standen. Und sie hängen hier immer noch gerne ab. Thema Klassentreffen: Ich glaube, über kaum ein anderes Line-up wird im Voraus mehr diskutiert. Darum höre ich als Booker lieber jeden Song fünfmal, bevor ich fehlgeleitete Provokateure mit zweifelhaften Parolen anfrage. Mit dem Splash haben wir ja auch eine wichtige Aufgabe: dem deutschen HipHop eine Plattform zu bieten und neue Impulse zu setzen. Ganz ehrlich, in mir sprühen schon die ersten Funken. Kaum zu glauben, dass wir die Stadt aus Eisen hier in ein paar Wochen wieder einheizen dürfen.“

Erst Kegelparty, dann Berghain

Vor 15 Jahren war Stefan Lehmkuhl noch Ordner und Bechersammler in der Halle Münsterland. Heute fliegt der Kreativchef des Berlin Festivals ständig durch Europa. Fast ein bisschen schade, dass er auf dem Flughafen Tempelhof nicht mehr landen kann.

„Erst letzte Woche habe ich den Flughafen noch mal neu kennengelernt. Bei einer Führung, zusammen mit meinen Eltern. Der Typ, der sie geleitet hat, saß hier während des Krieges selbst im Luftschutzbunker. Du musst dir das mal vorstellen: Vor 65 Jahren sind hier noch die Rosinenbomber gelandet. Heute feiern wir auf dem Flugfeld und in den alten Hangars ein Festival. Und ich darf entscheiden, zu welcher Musik getanzt wird. Als Booker und Creative Director plane ich das Line-up, das Bühnenbild und schaue in jede Ecke – es muss eben alles passen. Und wie’s passt, habe ich von der Pike auf gelernt. Vor 15 Jahren war ich noch Ordner und Bechersammler bei Europas größter Kegelparty in der Halle Münsterland. Ich weiß also, was jeder Einzelne leistet, damit so ein Spektakel funktioniert. Auf die kreative Seite bin ich erst mit meinem Volo bei der „Intro“ gewechselt. Inzwischen mache ich für die Gruppe auch das MELT Festival und schaue mit auf das Booking für das Splash. Wie man kreativ bleibt? Netzwerken! Ich besuche Newcomer-Festivals wie das Eurosonic in Groningen, treffe zum Mittag den Chefredakteur der „Groove“ und tanze nachts manchmal im Berghain. So wie gestern.“